[Anm. d. Red.: Dieser Artikel erschien im Oktober 2025 bei Gesundheit braucht Politik, Ausgabe 3/25: https://www.vdaeae.de/gesundheit-braucht-politik/archiv/gbp-ausgabe-3-2025/]
Gewalt im Rahmen der medizinischen Versorgung ist kein Alleinstellungsmerkmal der Psychiatrie. Dennoch wird sie aus unterschiedlichen Gründen oft als spezifisches Phänomen dieser Fachrichtung verstanden, von dem sich die anderen medizinischen Disziplinen abzugrenzen versuchen. Die Identifizierung von Gewalt mit behandlungsbedürftigen psychischen Problemen verstärkt die Stigmatisierung von Menschen, die sich in psychiatrischer Behandlung befinden oder in diese begeben wollen. Die mediale Berichterstattung zu gewalttätigen Attentaten wie zum Beispiel auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt 2024 oder am Hamburger Hauptbahnhof 2025, die von psychisch kranken Menschen verübt wurden, trägt sicherlich ebenfalls hierzu bei. In diesem Klima wurde zuletzt von Teilen der Regierungspartei CDU (u.a. Generalsekretär Carsten Linnemann) die Einführung eines Registers für psychisch kranke Menschen ins Gespräch gebracht.
Zur Einordnung dieser Debatte veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) im Juni dieses Jahres ein umfassendes Positionspapier. Hier wird zunächst die wissenschaftliche Datenlage dargelegt: „Die Evidenzlage lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass einige psychische Erkrankungen statistisch gesichert mit einem erhöhten Risiko für gewalttätiges Verhalten verbunden sind“ (DGPPN 2025, S. 7). Verglichen mit der hohen Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft (ca. ein Drittel der Bevölkerung) ist die tatsächliche Anzahl der Personen, von denen eine Gefahr für andere ausgeht, jedoch sehr klein. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zudem ein höheres Risiko, selbst Opfer von Kriminalität oder Gewalt zu werden (DGPPN 2025, S. 31).
In Bezug auf die Einführung eines Registers psychisch Kranker wird in dem Positionspapier verdeutlicht, dass eine solche Maßnahme zu Stigmatisierung und sozialer Isolation beitragen könnte, in manchen Fällen auch zur Vermeidung psychiatrischer Hilfsangebote. „Register könnten somit indirekt das Risiko für Gewalt erhöhen, anstatt es zu reduzieren“ (DGPPN 2025, S. 16). Auf Grundlage der vorliegenden Evidenz werden sieben Empfehlungen als Maßnahmen zur Gewaltprävention dargelegt. Diese umfassen die Intensivierung der Behandlungsangebote, insbesondere für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, mit einem Fokus auf die weitere Ambulantisierung der Behandlung, beispielsweise mit Hilfe eines Globalbudgets (globales Behandlungsbudget für ein Jahr; zur Debatte um die Ambulantisierung vgl. z.B. Röhricht 2025). Darüber hinaus werden die psychiatrische Eingliederungshilfe (Teilhabe am Sozial- und Arbeitsleben) sowie die Verhinderung von Wohnungslosigkeit als zentrale Maßnahmen zum Schutz vor Marginalisierung und somit als gewaltpräventiv verstanden. Auch die dringend erforderliche Verbesserung der Versorgung von geflüchteten Menschen wird hervorgehoben. Das Positionspapier der DGPPN resümiert in Bezug auf die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes: „Daraus resultiert eine eklatante und hochproblematische Versorgungslücke bei einer psychisch erheblich belasteten Personengruppe“ (DGPPN 2025, S. 11).
Die reflexhafte medizinische Verortung von Gewalt in der Psychiatrie beruht – neben etwaigen Mechanismen wie der oben angesprochenen Stigmatisierung – auf dem Grundsatz einer Doppelfunktion der Psychiatrie in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite als helfendes System im medizinischen Sinne, auf der anderen Seite eine ordnungspolitische Funktion mit staatlich legitimierten Eingriffen in die Freiheitsrechte einer Person (siehe Steinert 2021, auch zur aktuellen Auseinandersetzung zur Doppelfunktion). Diese Doppelfunktion ist historisch gewachsen und führt in der heutigen Praxis dazu, dass Menschen, die beispielweise im Rahmen eines Alkohol- oder Drogenrauschs agitiert oder verhaltensauffällig sind, in Deutschland in aller Regel psychiatrisch triagiert werden. Hierdurch wird kein Naturgesetz, sondern vielmehr eine gesellschaftspolitische Entscheidung dargestellt, diese Aufgabe in der Psychiatrie zu verorten. Dies bedeutet wiederum, dass auch andere Szenarien möglich sind. Unter anderem werden die Rückgabe der ordnungspolitischen Funktion an die Polizei (Zinkler & von Peter 2019) oder, wie anderswo praktiziert, die initial internistisch/anästhesiologische Behandlung diskutiert (Röhricht 2025).
Die Doppelfunktion ist innerhalb der Psychiatrie umstritten, sowohl unter Behandler*innen als auch unter Menschen mit psychischen Erkrankungen. Efkemann und Kolleginnen (2025) resümieren in einer ausführlichen Auseinandersetzung aus Perspektive der Nutzer*innen, Angehörigen und Genesungsbegleiter*innen, „wie divers die rechtliche Doppelfunktion der Psychiatrie […] in der Praxis erlebt wird und wie unterschiedlich die zugrunde liegenden Konzepte von Sicherheit, Schutz, Selbstbestimmung und Unterstützung individuell verstanden werden.“ Als Fazit wird festgehalten: „Unsere Beschäftigung mit der allgemeinen Doppelfunktion der Psychiatrie hat weiterhin gezeigt, dass für Betroffene und Angehörige die grundsätzliche Frage nach der Abschaffung der Doppelfunktion ja oder nein weniger zentral sein kann als die Unterschiede im praktischen Umgang mit sich anbahnenden Krisen und akuten Krisensituationen“. Dies betont, dass die Qualität des praktischen Umgangs mit Krisen höher zu bewerten ist als ihre bloße institutionelle Einordnung.
Nach diesen einführenden Gedanken kommen wir also zur aktuellen Realitätsebene und der Versorgung von Menschen mit agitiertem, aggressivem oder sonst von der Norm abweichendem delinquent-auffälligem Verhalten. In jedem Fall muss die Gesellschaft einen Umgang mit solchen Verhaltensweisen festlegen. Als Teil der Exekutive der demokratischen Gewaltenteilung spielt die Polizei dabei eine wesentliche Rolle. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Polizei und Psychiatrie kann durch zwei Schlüsselsituationen zusammengefasst werden: 1. Eine verhaltensauffällige Person im öffentlichen Raum wird von der Polizei in einer psychiatrischen Rettungsstelle vorgestellt. 2. Seitens einer psychiatrischen Einrichtung wird Amtshilfe zur Unterstützung im Umgang mit einer verhaltensauffälligen, akut eigen- oder fremdgefährdenden Person oder zur Umsetzung von Zwangsmaßnahmen hinzugerufen.
Im Dezember 2024 berichtete Die Zeit unter dem Titel „Sechs Schüsse, zwei Wahrheiten“ (Blasberg 2024) von einem Polizeieinsatz im August 2022 in Dortmund, bei dem ein junger Mann – Mouhamed Dramé, geflüchtet aus dem Senegal – im Rahmen eines Einsatzes bei akuter Eigengefährdung von der Polizei erschossen wurde. Rund um den Fall und den anschließenden Prozess war von einer „tödlichen Staatsgewalt“, einer „Mordwache“ von „Deutsche[n] Polizisten – Mörder[n] und Rassisten“ sowie „Polizeigewalt“ in unterschiedlichen Bereichen (Zeitungen, begleitende Proteste, Angehörige usw.) die Rede. Solche Narrative beeinflussen die öffentliche Wahrnehmung und können bereits vorher bestehende Vorurteile gegenüber Polizist*innen im Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen bekräftigen. Der Artikel in der Zeit versucht, dem komplizierteren Kontext des Falls, zumindest oberflächlich, gerecht zu werden. Die Autorin fragt zum Schluss: „Mehr als die Hälfte der zwischen 2010 und 2022 durch die Polizei getöteten Menschen war zuvor psychisch auffällig. Warum, so könnte man ebenfalls fragen, werden Polizisten so schlecht auf den Umgang mit psychisch Kranken vorbereitet? Warum gibt es hierfür kein standardisiertes Vorgehen, keinen spezialisierten Eingreiftrupp?“
Es ist eine gute Frage, die seit einigen Jahren in Berlin angegangen wird. Hier wird von der Polizeiakademie Berlin ein zentral organisiertes, 4-tägiges Seminar zum Umgang mit verhaltensauffälligen Menschen angeboten. Dieses Angebot ist für die Polizist*innen aktuell freiwillig. Das Programm besteht aus verschiedenen Schwerpunkten: Grundlagenwissen zu den unterschiedlichen psychischen Erkrankungen; praktische Übungen zur Deeskalation und Gefahrenabwehr; sowie interdisziplinärer Austausch mit dem Berliner Krisendienst und psychiatrischen Klinikärzt*innen aus unterschiedlichen Berliner Krankenhäusern. Aus der persönlichen Erfahrung als ärztlicher Teilnehmer ist der Austausch wertvoll, insbesondere zum Verständnis der gegenseitigen Perspektive.
Erinnern wir uns an dieser Stelle an die beiden wesentlichen Situationen der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Polizei und Psychiatrie. Im ersten Fall (verhaltensauffällige Person im öffentlichen Raum) ist der Hintergrund häufig, dass eine Person verwirrt, verzweifelt oder sonst hilfsbedürftig wirkt und daher psychiatrische Unterstützung bzw. eine fachliche Einschätzung und Entscheidung als indiziert angesehen wird. Da diese im derzeitigen Versorgungssystem nicht umgehend vor Ort gewährleistet wird, fällt der Polizei die Aufgabe des Transportes bzw. der Weitervermittlung zu. Dieser Grundsatz spiegelt sich in der oft verwendeten Terminologie der Polizei wider, wo deklariert wird: Eine Person wird einer Ärztin „vorgeführt“ (wobei medizinisches Personal eher den Begriff „vorgestellt“ verwenden würde). Hierin lässt sich eine Entscheidungsneutralität (fehlende Entscheidungskompetenz; „Ich bin kein Arzt“ bzw. „Ich bin keine Richterin“) der Polizei in solchen Situationen ablesen.
Eine Störung im öffentlichen Raum wird oftmals von „besorgten Passanten“ oder belasteten Nachbar*innen gemeldet, und die Polizei wird mit der Erwartung hinzugerufen, dass sie die Situation löst oder zumindest entzerrt. Bei konkreter Gefahr mag die Situation einfacher einzuschätzen sein, aber bei Ruhestörung oder von der Norm abweichendem, jedoch nicht gefährlichem Verhalten gibt es häufig keine eindeutige Lösung. Es ist eine undankbare Position, die letzte Instanz im öffentlichen Raum zu sein. Die Polizei hat nicht die Möglichkeit, eine Situation aus möglicherweise unnachvollziehbaren Gründen „ablehnen“ zu können – zum Beispiel von Seiten der Psychiatrie, die eine Person als nicht behandlungsbedürftig einschätzt, oder von Seiten der Gefangenensammelstelle, die eine Person als nicht verwahrfähig einschätzt. Dabei steht die Polizei stets in der Bringschuld. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass für die Polizei in der Position der Weitervermittlung ohne eigene Entscheidungskompetenz (keine Richterin, kein Arzt) eine schwierige Situation entsteht, wenn die Weitervermittlung seitens der betroffenen Person abgelehnt wird – die Gründe, also zum Beispiel die Einwilligungsfähigkeit, hierfür jedoch erst an anderer Stelle geprüft werden können. Zudem besteht bei konkreter Gefahr oftmals hoher Handlungsdruck.
In der zweiten Situation wird Amtshilfe zur Unterstützung hinzugerufen. Hier ist es beispielsweise eine ärztliche Entscheidung, eine Zwangsmaßnahme (Isolierung, Fixierung, Zwangsmedikation) umzusetzen, die Durchführung obliegt jedoch der Polizei. Diese hat somit erneut die undankbare Aufgabe, die ärztlich angeordnete Gewalt umzusetzen. Hier zeigt sich in den letzten Jahren in der subjektiven Alltagserfahrung des Autors in Berlin eine positive Entwicklung: Die Kolleg*innen der Polizei nehmen sich zunehmend Zeit zum Kontaktaufbau, üben Geduld und versuchen, eine Vermittlerposition einzunehmen und verbal zu deeskalieren. Oftmals kann durch Unterstützung der Polizei somit die Anwendung von formalen Zwangsmaßnahmen tatsächlich reduziert oder sogar umgangen werden. Insgesamt zeigt sich in der Erfahrung des Autors eine verbesserte psychosoziale Erstversorgung seitens der Polizei, welche im psychiatrischen Kontext unmittelbar zur Reduktion von Gewalt führen kann.
Diese Gedanken sollten nicht missverstanden werden: Der unverhältnismäßige Einsatz von Gewalt kommt weiterhin viel zu oft vor. Auch sollte nicht außer Betracht gelassen werden, dass die hauptstädtische Realität wenig repräsentativ ist und dass bereits die Anwesenheit von Polizeibeamt*innen als Repräsentanten der staatlichen Exekutive von vielen psychiatrischen Patient:innen als Gewaltanwendung verstanden wird. Inwiefern die subjektiv erlebten Entwicklungen in Berlin kausal oder korrelativ mit den Schulungen und dem zunehmenden interdisziplinären Austausch zusammenhängen, ist schwer nachzuvollziehen und bisher nicht objektiviert worden; eine positive Auswirkung wäre jedoch naheliegend.
Ein weiterer innovativer Ansatz, um Eskalationen frühzeitig zu verhindern, wäre die Einführung einer „psychiatrischen Notärztin“, die eine präklinische Einschätzung vornehmen kann. Dies würde die Schnittstelle zwischen Polizei und psychiatrischen Diensten stärken und könnte insbesondere in Krisensituationen wie dem kritischen Punkt der Weitervermittlung zu konstruktiveren und weniger gewaltbelasteten Lösungen führen. Das Ziel einer zukunftsfähigen Gesellschaft muss es sein, Gewalt so weit wie möglich zu verhindern. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist neben den genannten Punkten eine deutlich verbesserte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung. Dazu gehören wie dargestellt eine Umverteilung der Ressourcen zugunsten des ambulanten Sektors, flexible und bedarfsorientierte Hilfsangebote sowie eine gezielte Verbesserung der Versorgung geflüchteter Menschen – etwa durch Anpassungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Trotz aller Präventionsbemühungen wird es jedoch immer Menschen geben, die agitiertes, aggressives, von der Norm abweichendes oder delinquent-auffälliges Verhalten zeigen. In solchen Fällen übernimmt die Polizei eine zentrale Aufgabe der Gefahrenabwehr. Um unnötige Eskalationen zu vermeiden, ist dabei eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Polizei und Psychiatrie aus Sicht des Autors unverzichtbar. Gegenseitiges Schulen, kontinuierlicher fachlicher Austausch und ein vertieftes gegenseitiges Verständnis sind somit entscheidend, um in kritischen Situationen gemeinsam deeskalierend handeln und somit Gewalt verhindern zu können.
Literatur
Blasberg, A. (2024): Sechs Schüsse, zwei Wahrheiten. Die Zeit 54/2024. URL: https://www.zeit.de/2024/54/mouhamed-drame-todesfall-polizeibeamte-dortmund-gericht, abgerufen am 03.08.25
Efkemann et al. (2025): Die Doppelfunktion der Psychiatrie: Unterstützungs- und Schutzauftrag – (k)ein Widerspruch? R&P, 43, S. 78-86
DGPPN (2025): Positionspapier – Prävention von Gewalttaten, Stand Juni 2025
Röhricht, M. (2025): Ambulantisierung der Psychiatrie – Erfahrungen aus Triest als mögliche Auflösung eines Laing’schen Knotens der Bettenbehandlung. Sozialpsychiatrische Informationen, 55 (3), S. 23-28
Steinert, T. (2021): Die Doppelfunktion der Psychiatrie. R&P, 39, S. 28-34
Zinkler, M. & von Peter, S. (2019): Ohne Zwang – ein Konzept für eine ausschließlich unterstützende Psychiatrie. R&P, 37, S. 203-209