Leserbrief Sozialpsychiatrische Informationen (3/2021)

Liebe Redaktion,

in einer Diskussion über den Inhalt Ihrer Zeitschrift wurde meine sonst realitätsbewusste Meinung in die Radikalität getrieben, und eine sonst kritische Meinung des Gegenübers in den publizistischen Konservatismus. Mir ist bewusst, dass das keine faire Repräsentation der allgemeinen Tatsachen ist, aber sie dient als gefährlicher Hinweis für eine mögliche Dynamik, die dann entsteht, wenn der kritische Anspruch Ihrer Zeitschrift den publizierten Texten nicht mehr zu entnehmen ist, und somit ein unbespieltes Vakuum resultiert. Die Frage ist also was passiert, wenn die lobenswerten und ohne Zweifel unabdingbaren sozialpsychiatrischen Elemente, für die Sie sich wohlgemerkt schon länger einsetzen als ich lebe, vollständig implementiert sind. Eine kritische Stimme müsste die Weitsicht und vor allem den Anspruch haben, den Diskurs über dieses Ziel hinaus zu gestalten, denn auch ein voll und ganz sozialpsychiatrisches Hilfesystem beantwortet viele der dringenden Fragen nur unzureichend. Es bedarf also, nach meiner Meinung, einer stetigen Vergrundsätzlichung der Debatte.

Hier wenige Beispiele: Im Februar letzten Jahres urteilte das Bundesverfassungsgericht über das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben […] Dieses Recht besteht in jeder Phase menschlicher Existenz [und ist] insbesondere nicht auf schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt”. Die DGPPN reagierte darauf eher zurückhaltend (z.B. https://eppendorfer.de/suizidassistenz-dgppn-begruesst-aerztetags-beschluss), aber was bedeutet dieses Urteil für die Akutpsychiatrie, wenn eines der beiden Standbeine der zur Legitimation von Zwang herangezogenen Argumentationslinien zukünftig verfassungswidrig sein könnte? Warum wird trotz zunehmender Evidenz für zahlreiche Limitationen sowie langfristige Schäden von Psychopharmaka (z.B. Harrow, Jobe and Tong, 2021, oder Weinmann, 2019) deren Einsatz nicht kritischer diskutiert? Oder: Warum gelten psychiatrische Patientenverfügungen immer noch als Rarität, und wenn vorhanden, wieso werden sie mit einer berufsständischen Selbstverständlichkeit lediglich zum Teil respektiert? Zu diesen und vielen weiteren Themen fehlen grundlegende Debatten in Ihrer Zeitschrift. In den bald 50 Jahren seit der Enquête hat sich der Referenzpunkt verschoben: Das, was früher ‚kritisch’ war ist bald schon fast konservativ. In einer Zeitschrift, die sich seither als ‚Zeitschrift für kritische Psychiatrie’ beschreibt, ist von dieser Entwicklung erstaunlich wenig sichtbar.

Abschließend eine Analogie zur Politik: Wenn sich Politikerinnen in Talkshows oder anderen öffentlichen Formaten streiten dann überschattet schnell eine Träge den Diskurs: Die engstirnigen Grenzen der Realpolitik ersticken jeden gestalterischen oder kreativen Anspruch, da diejenigen im Zentrum der Macht notwendigerweise nicht selbst den Ast, auf dem sie sitzen, absägen. Das ist dann die Aufgabe kritischer Journalisten, Philosophinnen und Anderer, die eine gestalterische Freiheit nutzen, um Visionen aufzuzeigen. Ihre Zeitschrift, in der viele der Autoren leitende Positionen in der psychiatrischen Versorgung besetzen, tut leider so als könne beides vereinbart werden: machtbewusst auf dem Ast der Macht sitzen und gleichzeitig gestalterisch sägen. Mit diesem Ansatz jedoch wird die Säge einer ‚Zeitschrift für kritische Psychiatrie‘ stumpf.

In der Hoffnung, dass diese Kritik die Diskussion anregen wird

Milan Röhricht


Hinweise zum Text:

Harrow, M., Jobe, T. H., & Tong, L. (2021). Twenty-year effects of antipsychotics in schizophrenia and affective psychotic disorders. Psychological medicine, 1–11. Advance online publication. https://doi.org/10.1017/S0033291720004778

Weinmann, S. Die Vermessung der Psychiatrie. Köln: Psychiatrie Verlag, 2019