Das Triester Modell

[Anm. d. Red.: Dieser Artikel erschien im Oktober 2024 bei Gesundheit braucht Politik, Ausgabe 3/24: https://www.vdaeae.de/gesundheit-braucht-politik/archiv/gbp-ausgabe-3-2024/]

Auch im Bereich der Psychiatrie werden in Deutschland Möglichkeiten zur besseren ambulanten Versorgung diskutiert.[1] Neben den Fragen der Ressourcenverteilung und Kostendeckelung im Rahmen eines marktwirtschaftlich organisierten Systems beinhaltet die Auseinandersetzung mit der Ambulantisierung in der Psychiatrie dabei mindestens zwei Besonderheiten: Zum einen wird um die Deutungshoheit bezüglich des grundsätzlichen Verständnisses von psychischen Krankheiten gerungen; dabei spielt die Frage, was ein Versorgungssystem, dessen Aufgabe zumindest in Teilen streitbar bleibt, überhaupt leisten soll, eine entscheidende Rolle. Zum anderen wird die Doppelfunktion, welche die Psychiatrie nach wie vor übernimmt – nämlich neben der Krankenversorgung auch die gesellschaftliche Ordnungsfunktion der Gefahrenabwehr und Ausübung sozialer Kontrolle – intensiv debattiert.

Als Vorbild des Prozesses der Ambulantisierung in der Psychiatrie gelten entsprechende Entwicklungen in Italien im Laufe der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Mit der Ernennung Franco Basaglias zum Direktor der psychiatrischen Klinik in Gorizia begann dort 1961 ein systematischer Prozess der Deinstitutionalisierung. Dieser mündete letztlich 1971 in einen radikalen Bettenabbau und die Verlagerung der Behandlung in den ambulanten Bereich, welche Basaglia als Direktor der psychiatrischen Klinik San Giovanni in Triest umsetzte.[2] Dort entwickelte er gemeinsam mit einem multidisziplinären Team ein Modell, welches inzwischen als internationales Vorzeigeprojekt der ambulanten, gemeindepsychiatrischen Versorgung gilt und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsprechend anerkannt wird.[3]

Während im Jahr 1971 noch mehr als 1.000 Patient:innen gegen ihren Willen in der psychiatrischen Klinik San Giovanni behandelt wurden, waren es bereits 1977 als Folge des Paradigmenwechsels nur noch 51. Im August 1980 wurde die Klinik dann endgültig geschlossen.[4] Anstelle der psychiatrischen Klinik entstand in Triest ein bis heute bestehendes umfassendes ambulantes Versorgungsnetzwerk mit einer kleinen psychiatrischen Abteilung im städtischen Allgemeinkrankenhaus Ospedale Maggiore, welches nur wenige stationäre Betten bereithielt.

Triest liegt im Nordosten Italiens in der Verwaltungsregion Friuli Venezia Giulia. 2022 hatte die Stadt ca. 200.000 Einwohner:innen. Herzstück der gemeindepsychiatrischen Versorgung sind vier Community Mental Healthcare Centres (CMHC),[5] die je für ein Einzugsgebiet von ca. 50-70.000 Bürger:innen zuständig sind. Die CMHC sind rund um die Uhr geöffnet, dienen als Anlaufstelle zur psychiatrischen, psychologischen und sozialen Unterstützung und ermöglichen einen niedrigschwelligen Zugang mit Wartezeiten ohne Termin von ca. 1-2 Stunden. Sie beheimaten die diversen ambulanten und tagesklinischen Angebote und eine Apotheke, in die die Patient:innen zur regelmäßigen Einnahme der Medikation kommen können. Der Einsatz von compulsory psychiatric treatment orders (CPTO; dt.: Zwangsbehandlungen) erfolgt auch, wo immer möglich, über ein CMHC. Durchschnittlich versorgt ein CMHC 900-1.200 Patient:innen, personell besetzt mit 30-40 Mitarbeiter:innen.

Durch je 6-8 Gemeindebetten mit 24h-Betreuung sind in den CMHC zudem kriseninterventionelle Aufnahmen zwischen 08:00 und 20:00 Uhr möglich. Ein durchschnittlicher Aufenthalt dauert hier 10-12 Tage. In dieser Zeit werden die Patient:innen motiviert, ihren normalen Alltag fortzusetzen, d.h. etwa Termine in der Stadt wahrzunehmen, Besuch zu empfangen oder an den Tagesangeboten des CMHC teilzunehmen. Diese Gemeindebetten sind allerdings nicht ausschließlich für Krisen reserviert, sondern können auch z.B. bei Obdachlosigkeit zum Einsatz kommen, um einen weiteren sozialen Abstieg zu verhindern. Neben den CMHC gibt es zudem weitere ambulante Unterstützungsangebote, Wohngruppen, Verdienstmöglichkeiten und Werkstätten.

Für akute Krisen stehen sechs bis sieben Betten auf der Akutstation im städtischen Allgemeinkrankenhaus zur Verfügung,[6] v.a. zur Aufnahme nachts zwischen 20:00 und 08:00 Uhr.[7] Am Folgetag der Aufnahme erfolgt eine Visite durch psychiatrisches/psychologisches Personal des zuständigen CMHC zur Klärung, ob eine Verlegung dorthin, ggf. in ein Gemeindebett, erfolgen kann. Die Tür der Akutstation ist durchgehend offen und die durchschnittliche Länge des Aufenthaltes beträgt drei Tage. Zwangsbehandlungen auf der Akutstation beinhalten stets sowohl die Unterbringung als auch die Zwangsmedikation, welche jedoch wie oben besprochen vorrangig vom zuständigen CMHC übernommen werden.

Das Team ist neben der Akutstation konsiliarisch für das Allgemeinkrankenhaus zuständig. Akute Drogen- oder Alkoholintoxikationen werden nicht psychiatrisch triagiert, sondern sind Aufgabe der internistischen bzw. anästhesiologischen Abteilungen und werden im Verlauf ggf. konsiliar-psychiatrisch mitbehandelt. Stark agitierte Patient:innen, die über die Rettungsstelle eingewiesen werden, werden ebenfalls nicht unmittelbar psychiatrisch triagiert, sondern können zunächst internistisch/anästhesiologisch medikamentös sediert oder auch antipsychotisch behandelt werden. Darüber hinaus gibt es in Triest getrennte Dienste für Lern- und andere geistige Behinderungen, Essstörungen sowie für Kinder und Jugendliche. Auf die Debatte zur forensischen Psychiatrie kann an dieser Stelle nur verwiesen werden.[8]

Was können wir aus Triest lernen?

Am Triester Modell lassen sich wichtige Vorteile der Ambulantisierung in der Psychiatrie beobachten. Im Vergleich zu den anderen G7-Staaten[9] wird in Italien für die Versorgung psychisch kranker Menschen deutlich weniger Geld (z.B. prozentuell weniger als die Hälfte des deutschen Budgets) und Personal benötigt. Dennoch ist die Zahl der Zwangseinweisungen deutlich gesunken und die Suizidrate während des radikalen Bettenabbaus ebenfalls leicht zurückgegangen. Letztere bewegt sich im Vergleich zu den anderen G7-Staaten auf niedrigstem Niveau. Die Behandlung von Menschen in der eigenen Lebenswelt entspricht dem Recovery Paradigma, welches die subjektive Erfahrung des Individuums in den Vordergrund stellt.

Darüber hinaus wird die Debatte zur gesellschaftlichen Haltung zu und dem Umgang mit auffälligem Verhalten durch die Verlagerung der psychiatrischen Versorgung in die Gemeinde grundsätzlich verändert. Dabei ist neben der Erwartung an die Gesellschaft, ein solches Verhalten auszuhalten und eigene Einflussfaktoren mitzudenken, auch die Hoffnung einer wachsenden Akzeptanz und offener Begegnungen mit psychisch erkrankten Personen verbunden. Im Bestfall können dadurch heilsame, gemeindenahe Milieus und Strukturen entstehen, welche durch menschliches Mitdasein therapeutische Funktionen übernehmen (z.B. Krisen- oder Gastfamilien, therapeutische Gemeinschaften usw.). Es ist zu erwarten, dass die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen hierdurch deutlich abnehmen würde.

Solche politischen Ziele einer psychiatrischen Reform hin zur Ambulantisierung waren beispielsweise auch im französischen Lille-Ost zentral, wo das Grundprinzip wie folgt formuliert wurde: „society, and thus mental health services, need to adapt to people’s needs, and not the other way around”.[10] Franco Basaglia wiederum brachte es bereits vor mehr als 50 Jahren folgendermaßen auf den Punkt: „The opening up of the hospital and freedom of communication can only work if the external world participates as one part of the relationship”.[11] Das Festhalten an einem primär vollstationären Setting, hingegen, verborgen vor dem kritischen Blick der Allgemeinheit, wird die alten, paternalistischen und autoritären Machtstrukturen aufrechterhalten.



Quellen


[1] Als aktuelle Übersicht vgl. z.B. Matthias Heißler: Psychiatrie ohne Betten, Köln 2022

[2] Hierzu wurde viel publiziert, vgl. z.B. John Foot: The man who closed the asylums, London/NY 2015

[3] WHO: Comprehensive mental health service networks: promoting person-centred and rights-based approaches, Geneva 2021

[4] John Foot: The man who closed the asylums, a.a.O.,  S. 338-366

[5] Roberto Mezzina: Community Mental Health Care in Trieste and Beyond. An „Open Door – No Restraint“ System of Care for Recovery and Citizenship, in: J Nerv Ment Dis. 2014 Jun;202(6):440-5; Roberto Mezzina: The Trieste Model Revisited. Open Door, No Restraint System of Care, in: ‘Psychiatry with Coercion: Myth or Vision?’ Barts Academic Afternoon, ELFT, Wednesday 6th September 2023; Milan Röhricht: Persönliche Kommunikation / Erfahrungsbericht Triest Visit, Delegation of London Mental Health Service May 23rd – May 25th, 2023, unpubliziert

[6] Ibid.

[7] Die Akutstation ist auch für das Verwaltungsgebiet Gorizia zuständig. Milan Röhricht: Persönliche Kommunikation, a.a.O.

[8] Siehe z.B. Roberto Mezzina: Forty years of the Law 180: the aspirations of a great reform, its successes and continuing need, in: Epidemiol Psychiatr Sci. 2018 Aug;27(4): 336-345; Milan Röhricht: Persönliche Kommunikation, a.a.O.

[9] C. Barbui / D. Papola / B. Saraceno: Forty years without mental hospitals in Italy, in: Int J Ment Health Syst. 2018 Jul 31; 12:43

[10] WHO: Comprehensive mental health service networks, a.a.O.

[11] Nach John Foot: The man who closed the asylums, a.a.O., S.  357, Original in: Franco Basaglia und Franca Ongaro: Introduction to Moirre di classe, Turin 1969, S. 6