
Note: This is the adapted translation of an article which appeared here in English in June 2022.
Aufgrund der zunehmenden Migration nach Europa im Laufe des letzten Jahrzehnts[1] und der weiterhin unzureichenden gesundheitlichen Versorgung von Geflüchteten durch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) haben zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) begonnen, medizinische Nothilfe zu leisten. Meine Partnerin und ich haben kürzlich fünf Monate als Ärzt:innen bei einer deutschen Hilfsorganisation in Thessaloniki verbracht, die mittlerweile multidisziplinäre Teams nach Polen, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Griechenland versendet. Der Großteil unserer dortigen Arbeit umfasste ärztliche Sprechstunden in einer eigens von der NGO eingerichteten Praxis und dem am Stadtrand gelegenen Flüchtlingslager. Kurz nach unserer Ankunft übernahmen wir zudem die medizinische Koordination des Projekts, sodass wir uns zusätzlich um die Personalplanung, die Abstimmung bei Notfällen und die Kommunikation mit den verschiedenen Akteur:innen des griechischen Gesundheitswesens kümmerten. Darüber hinaus oblag uns die enge Kooperation mit diversen Partner-Organisationen, welche sich beispielsweise mit der Verteilung von Lebensmitteln und ehrenamtlicher Rechtsberatung beschäftigen.
Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde ich von einer Arbeitsgruppe einer der weltweit einflussreichsten medizinischen NGOs kontaktiert, welche über mehrere Monate den Bedarf eines neuen Einsatzes in Nordgriechenland prüfte. Das Team besuchte zahlreiche Flüchtlingslager und Städte in der Region und interviewte dabei viele NGO-Vertreter:innen, Politiker:innen sowie Camp-Mitarbeiter:innen. Wir verabredeten uns zu mehreren informellen Meetings und einem Rundgang durch die Praxis, im Laufe derer wir vor allem Einblicke in die Versorgungsprobleme der illegalisierten Geflüchteten gewähren konnten. Für uns waren diese Treffen mindestens ebenso nützlich, da sich die Gruppe durch ihren Zugang zu allen wichtigen Akteur:innen in der Versorgung (und Verfolgung) von Geflüchteten in Nordgriechenland umfassende Einblicke in die Gesamtsituation verschafft hatte. Wir waren daher unter anderem gespannt auf ihre Meinung zu unserer Arbeit mit der NGO.
Kleine, meist junge medizinische NGOs haben neben ihren offensichtlichen Vorzügen nämlich auch eine ganze Reihe von Nachteilen. Um möglichst viele Ärzt:innen anzusprechen, beträgt die Mindestaufenthaltsdauer an dem Einsatzort in Thessaloniki beispielsweise nur zwei Wochen, sodass Freiwillige oft kurze Zeit nach ihrer Einarbeitung schon wieder abreisen. Die Teams sprechen in der Regel kein Griechisch, was erhebliche Schwierigkeiten im Verständnis medizinischer Dokumentation und in der Kommunikation mit griechischen Ärzt:innen mit sich bringt. Wir befürchteten außerdem, dass sich einige der krankenversicherten Patient:innen zu sehr auf die leicht zugängliche Praxis verließen und somit kein Interesse hatten, sich innerhalb des griechischen Systems zurechtzufinden. Darüber hinaus beschäftigte uns immer wieder die Sorge, dass unsere Arbeit auch nicht intendierte gesellschaftliche Nachteile mit sich bringen könnte. Schließlich wären die politisch Verantwortlichen womöglich gezwungen einzuschreiten, wenn NGOs sich zurückzögen und somit die Umstände der Geflüchteten in ihrer dramatischen Realität stärker ans Licht kämen.
Bei einem Bier mit Sotiris*, einem der Ärzte der größeren NGO, stellte ich eines Abends die Frage, die mich schon seit Monaten beschäftigte: „Meinst du, dass unsere Organisation überhaupt hier sein sollte?“ Seine Antwort, ein klares Ja, überraschte mich. Große humanitäre Organisationen wie sein aktueller Arbeitgeber, so Sotiris, hätten viele Vorteile. Aufgrund ihrer Größe, Finanzierung und Erfahrung seien sie gut gerüstet, um schnell und effizient auf Kriege oder Naturkatastrophen zu reagieren. Über ein Multi-Milliarden-Dollar-Budget – so groß wie das eines kleinen Landes – zu verfügen, bringe jedoch auch gewisse Nachteile mit sich. Würde sein Arbeitgeber sich in üblicher, kostspieliger Manier in Nordgriechenland engagieren, erklärte Sotiris, könnte eine solche Intervention beispielsweise die Aufmerksamkeit der Behörden auf die bisher weniger beachteten Fluchtrouten lenken und somit Personen in Gefahr bringen. Im Gegensatz dazu könne unsere NGO „nah an den gefährdeten Menschen vor Ort“ agieren.
Was unserer Organisation an Finanzierung und Professionalität fehlt, macht sie dieser Argumentation folgend mit Pragmatismus und Flexibilität wett. Die Praxis in Thessaloniki ist in der Tat ein gutes Beispiel dafür. Dort werden sowohl offizielle und somit krankenversicherte Asylbewerber:innen als auch Geflüchtete ohne Papiere behandelt. Denn sogar die sozialversicherten Migrant:innen kämpfen in Griechenland leider darum, in Ambulanzen und Notaufnahmen ernst genommen zu werden und verfügen oft über so gut wie keine finanziellen Ressourcen. Noch vor kurzer Zeit stellte das UNHCR den Bewohner:innen der Camps Kreditkarten und ein Budget von immerhin 150€ monatlich zur Verfügung. Nach der Übernahme durch die griechischen Behörden wurde dies zeitweise ausgesetzt und anschließend durch 75€ in Kombination mit einem Catering fragwürdiger Qualität abgelöst.[2] Bei einem solch knappen Budget, und aufgrund der Tatsache, dass viele der Bewohner:innen aus körperlichen, mentalen oder juristischen Gründen nicht arbeitsfähig sind, können sie sich grundlegende Mittel wie Diabetes- oder Blutdruckmedikamente nicht leisten, geschweige denn „Luxusbehandlungen“ wie Zahnarzt- oder Optikertermine. Für Menschen ohne Papiere wiederum gibt es meistens gar keine Alternative zu den Angeboten von NGOs. Obwohl sie von Krankenhäusern in Notfällen rein rechtlich nicht abgewiesen werden dürfen, haben wir es unzählige Male miterlebt, dass Patient:innen ihre Reise lieber mit einer Lungenentzündung, einer sexuell übertragbaren Infektion oder einem verletzten Knöchel fortsetzten, als eine Exposition gegenüber den Behörden zu riskieren.[3]
Diese Beispiele tragen jedoch wenig dazu bei, das wichtigste Argument gegen die Existenz medizinischer NGOs zu entschärfen. Wie eingangs bereits erwähnt, besteht die begründete Sorge, dass humanitäre Organisationen in manchen Fällen dazu beitragen, schlechte Zustände weiter zu stabilisieren. Schließlich müssten die zuständigen Behörden in einer Realität ohne NGOs einschreiten und Verantwortung übernehmen. Noch vor meiner Ankunft in Thessaloniki fragte ich eine deutsche Anwältin mit Erfahrung in der rechtlichen Beratung Geflüchteter auf der griechischen Insel Lesbos, ob sie diese Einschätzung teile. Ihre Antwort war alles andere als schmeichelhaft für die politisch Verantwortlichen. Im Gegenteil, führte sie aus, Griechenland habe kein Interesse daran, die Situation für Geflüchtete zu verbessern. Es halte den Standard auf einem gerade ausreichenden Niveau, damit weiter EU-Gelder fließen. Die Versorgung bleibe jedoch absichtlich so schlecht, ‚‚dass die Lebensbedingungen ihre abschreckende Wirkung nicht verlieren‘‘.
Ich muss gestehen, diese Einschätzung zunächst nicht ernst genommen zu haben; mein Glaube an Europa und sein Engagement für Menschenrechte war wohl noch einigermaßen intakt. Seit Anfang des Jahres haben meine Erfahrungen jedoch immer wieder die traurige Analyse der Juristin bestätigt. Eine lange Liste alltäglicher Beispiele hat unseren Eindruck geprägt, dass Geflüchtete sich in Griechenland bewusst nicht wohl fühlen sollen. In dem Camp, in dem wir arbeiteten, wurden beispielsweise kleine Anbauten oder Gemüsebeete, welche die Container etwas größer und weniger trostlos machten, ohne jegliche Erklärung entfernt. Noch im Laufe meines Aufenthaltes wurden die Zugangsregeln der Camps zudem weiter verschärft und Sicherheitskräfte eingestellt, die selbst von langjährigen Bewohner:innen Ausweise bei jedem Ein- und Ausgang verlangten. Humanitären NGOs wurde unterdessen wiederholt der Zugang verwehrt, sodass wir auf Notlösungen außerhalb der Zäune zurückgreifen mussten. Weiterhin waren wir entsetzt über die Ineffizienz des Asylverfahrens an sich. Die Bearbeitung von Anträgen dauert in der Regel Jahre und Ablehnungen erfolgen oft und aus unerklärlichen Gründen. Weil die Wartezeit in die gewährte Gesamtaufenthaltsdauer mit einfließen kann, laufen ‚neue‘ Dokumente teilweise schon wenige Monaten nach ihrer Übergabe ab und müssen dann in einem wiederum langwierigen Prozess erneuert werden.
Hinzu kommen die nicht nachlassenden Berichte über Pushbacks an den EU-Außengrenzen. Wir hatten in Thessaloniki engen Kontakt zu Mitarbeiter:innen des Border Violence Monitoring Network (BVMN), einer Ansammlung von NGOs, die hauptsächlich in den Balkanregionen und Griechenland tätig sind. Erst 2020 veröffentlichte BVMN sein ‚Black Book of Pushbacks‘, ein zweibändiges, 1500 Seiten starkes Buch, das den grauenhaften Umgang mit über 12.000 Menschen durch die Behörden an Europas Grenzen dokumentiert und kurz nach seiner Veröffentlichung der EU-Kommissarin für Asyl vorgelegt wurde.[4] Leider scheint jedoch selbst eine solch vernichtende Publikation keinen merklichen Einfluss auf den Kurs der EU gehabt zu haben. Im Gegenteil: anhaltende Menschenrechtsverletzungen gipfelten erst kürzlich darin, dass Fabrice Leggeri, der frühere Leiter der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), nach Enthüllungen über seine Beteiligung an Pushbacks zurücktreten musste.[5]
Zusammen mit unseren persönlichen Erfahrungen in Thessaloniki haben unzählige Berichte wie dieser die Überzeugung genährt, dass die Notlage unserer Patient:innen die Konsequenz eines bewussten politischen Willens ist. Ziel ist es anscheinend tatsächlich, eine vermeintlich abschreckende Wirkung aufrechtzuerhalten. Dies ist nicht nur zutiefst zynisch, sondern birgt meiner Auffassung nach auch mehr Nach- als Vorteile für die Europäische Union. Die häufigen Berichte über Misshandlungen haben die EU beispielweise anfällig für Vorwürfe der Heuchelei gemacht, wenn Staats- und Regierungschefs Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Welt anprangern. Abgesehen von moralischen Fragen ist die Dauer und Ineffizienz des Asylverfahrens in Zeiten des Arbeitskräftemangels außerdem eine Verschwendung der Talente der geflüchteten Bevölkerung. Viele der Patient:innen, die wir behandelten, sind junge, intelligente und motivierte Menschen, die unter anderen Umständen zum Wohlstand der griechischen Gesellschaft beitragen könnten.
Darüber hinaus erscheinen die Abschreckungsmaßnahmen auch als Mittel zu ihrem perfiden Zweck fehlgeleitet. Es ist wichtig zu erkennen, dass nur ein kleiner Anteil der Migrant:innen, nämlich die Gruppe von Menschen mit rein wirtschaftlichen Motiven (wenn diese denn überhaupt existieren), mit Berichten über die brutale Realität des europäischen Asylverfahrens abzuschrecken ist. Aufgrund der Erfahrungen in Thessaloniki bin ich überzeugt, dass diejenigen, die vor politischer Verfolgung, Hunger oder Krieg fliehen, ungeachtet der sie erwartenden Zustände die gefährliche Reise nach Europa weiterhin auf sich nehmen werden.[6],[7] Die EU scheint ihren repressiven Kurs jedoch beibehalten zu wollen. Angesichts des politischen Klimas und der Beweislage ist es zutiefst zweifelhaft, dass die Verantwortlichen in Brüssel und Athen in absehbarer Zeit dazu bereit sein werden, die Bedingungen von Geflüchteten zu verbessern. Somit ist anzunehmen, dass sie auch dann ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen würden, wenn sich medizinische NGOs aus Griechenland zurückzögen. Dies bedeutet wiederum, dass solche Organisationen für die Gewährleistung einer Grundversorgung momentan leider unerlässlich sind.
Anmerkung der Redaktion: Der Autor arbeitete bis zuletzt als ehrenamtlicher Arzt für eine medizinische NGO in Griechenland. Deren Medienpolitik verlangt, dass der Name der Organisation in politisch voreingenommenen Posts im Internet nicht erwähnt wird, um ihre Neutralität zu wahren.
*Name auf Wunsch geändert
Foto von Neha
QUELLEN
[1] https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Migration_and_migrant_population_statistics
[2] https://help.unhcr.org/greece/living-in-greece/access-to-cash-assistance/
[3] Ich habe unzählige fähige und freundliche griechische Ärzt:innen in örtlichen Krankenhäusern kennengelernt. Unsere Patient:innen haben jedoch oft die Erfahrung gemacht, dass sie in Griechenland nicht willkommen sind, was zu verständlichem Misstrauen gegenüber allen mit dem Staat verbundenen Institutionen, einschließlich der Krankenhäuser, führt. Bei Notrufen werden Krankenwagen zudem oft von der Polizei begleitet, mit zu erwartenden Folgen.
[4] https://www.theguardian.com/global-development/2020/dec/23/black-book-of-thousands-of-migrant-pushbacks-presented-to-eu
[5] https://www.theguardian.com/world/2022/apr/29/head-of-eu-border-agency-frontex-resigns-amid-criticisms-fabrice-leggeri
[6] Siehe zum Beispiel: https://freemovement.org.uk/does-the-policy-of-deterring-asylum-seekers-actually-work/
[7] Abgesehen davon weisen diverse Studien darauf hin, dass das Argument, NGOs würden als Pull-Faktoren für Migration fungieren, nicht stimmt. Siehe zum Beispiel Cusumano, E., Villa, M. From “Angels” to “Vice Smugglers”: the Criminalization of Sea Rescue NGOs in Italy. Eur J Crim Policy Res 27, 23–40 (2021). https://doi.org/10.1007/s10610-020-09464-1