Vor Corona sind nicht alle gleich

Seit einiger Zeit werden auf der Intensivstation, auf der ich arbeite, vor allem Menschen mit Covid-19 Infektionen behandelt. Seitdem ist die Zahl der arabisch, kurdisch oder türkisch sprechenden Patientinnen merklich angestiegen. Menschen ohne oder mit nur wenig Deutschkenntnissen zu behandeln, ist hier in Berlin nichts Ungewöhnliches. Da der Stadtteil, in dem ich arbeite, Heimat vieler Menschen mit Migrationshintergrund ist, bin ich regelmäßig auf die Übersetzungshilfe von Kollegen angewiesen, um den Grund der Vorstellung zu verstehen, über anstehende Eingriffe aufzuklären oder Therapieentscheidungen zu erläutern. Dennoch ist das fast vollständige Fehlen von weißen Deutschen unter den Patientinnen auffällig und nicht nur ich frage mich, was dahintersteckt. Die Intonation der Kommentare im Kollegium variiert („Ist auch mal wieder ein Deutscher aufgenommen worden?“, „Es sind wieder nur unaussprechliche Namen dazugekommen“) und lässt unterschiedliche, mehr oder weniger negativ konnotierte Vorurteile bezüglich der scheinbaren Ursachen vermuten.

Folgt man der medialen Darstellung von Corona-Ausbrüchen, wie zum Beispiel Berichten über eine türkisch-arabische Hochzeitsfeier in Berlin (à la „man begrüßte sich mit Küsschen“[1]), liegt die Vermutung nahe, die ungleiche Erkrankungsverteilung liege vor allem an einer „Kultur“, die sich über die staatlich festgelegten Hygieneregeln hinwegsetzt. Der Vorwurf gegen die Betroffenen, sie haben sich wider besseres Wissen nicht an die doch so klar formulierten staatlichen Regeln gehalten und so ihre Gesundheit – und die Gesundheit anderer – in Gefahr gebracht, schwingt oft eindeutig mit. Besonders vor der ebenfalls in den Medien viel besprochenen Angst der kompletten Auslastung bzw. Überlastung der Intensivkapazitäten erscheint dieser Vorwurf noch schwerwiegender: Im schlimmsten Fall könnte man daraus schließen, ein Behandlungsplatz wäre besser für einen ‚‚nicht selbst verschuldeten“ Krankheitsfall freigehalten worden.

Während die Unterteilung in „selbst-verschuldete“ oder „zufällig erlittene“ Erkrankungen ohnehin kritisch zu hinterfragen ist, verhindert eine solche kultur-fokussierte Sichtweise die differenzierte Betrachtung der vielfältigen Gründe für die asymmetrische Betroffenheit von  Menschen mit Migrationshintergrund. Wie so oft in der Analyse von gesellschaftlichen Phänomenen hilft es, die Lebens- und Wohnverhältnisse der Menschen in den Blick zu nehmen: Der Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit ist mittlerweile weithin bekannt und durch zahlreiche Studien belegt[2]. Dass dieser Zusammenhang auch für die aktuelle Corona-Pandemie gilt, wird immer klarer[3], auch wenn erste Daten dies vor allem für die USA und Großbritannien belegen[4]. Die Patientinnen, die in meiner Klinik behandelt werden, kommen zu einem großen Teil aus ärmeren Haushalten und dichtbevölkerten Stadteilen[5]. Menschen mit Migrationshintergrund, besonders aus der Türkei, stehen vergleichsweise weniger Quadratmeter Wohnfläche pro Person zur Verfügung und es leben mehr Personen in einem Haushalt[6].

Im Falle des über die Atemluft übertragenen Virus Sars-CoV-2 spielen die Wohnverhältnisse eine besondere Rolle. Je mehr Menschen in einer Wohnung oder einem Wohnkomplex leben, desto schwieriger können Abstandsmaßnahmen eingehalten werden. Zudem finden sich unter Familien mit Migrationshintergrund häufiger Mehrgenerationen-Haushalte, was in der aktuellen Situation die besondere Gefahr birgt, dass sich ältere Menschen an Jüngeren anstecken und dann ggf. im Krankenhaus aufgenommen werden müssen5. Gilt der traditionell starke familiäre Zusammenhalt auch zwischen verschiedenen Generationen in türkischen und arabischen Familien im Normalfall als stabilisierend, erscheint er im Rahmen der Pandemie als zusätzlicher Risikofaktor.

Eine weitere Ursache ist möglicherweise auch der unterschiedliche Zugang zu Informationen. Menschen, die mittlerweile in der 2. und 3. Generation in Berlin leben, sprechen meistens fließend Deutsch und informieren sich über deutsch-sprachige Medien[7]; eine Sprachbarriere ist besonders unter den älteren Patienten jedoch weiterhin üblich. Die wichtigen Neuigkeiten bezüglich der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden zwar in Berlin im Gegensatz zu anderen Bundesländern durchaus in verschiedenen Sprachen zur Verfügung gestellt[8]. Jedoch nutzen gerade, türkischsprechende ältere Menschen oft nur heimatsprachige Medien (insbesondere Fernsehbeiträge)[7], was sicherlich zu einem Informationsverlust bezüglich der sich schnell ändernden Corona-Maßnahmen führen kann.

Wie dieser kleine Exkurs zeigt, lohnt es sich über den eigenen Tellerrand der Vorurteile hinwegzugucken, um größere Zusammenhänge zu erkennen. Gerade in Krisenzeiten fallen Vorurteile auf nahrhaften Boden und verleiten uns dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen. In den letzten Monaten habe ich die wachsenden Anteile Rechtsextremer unter den selbsternannten ‚Querdenkerinnen‘[9] und die anhaltend ausländerfeindlichen Äußerungen führender AfD Politiker mit Sorge beobachtet. Diese versuchen erneut, eine unsichere politische Lage für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und gesellschaftliche Spaltung zu erzeugen. Um zu verhindern, dass ausgerechnet die in der Pandemie so bedeutsamen Stimmen des medizinischen Personals missbraucht werden, sollten wir uns immer wieder die Zeit nehmen, eigene Meinungen, Zeitungsartikel und Fehrnsehbeiträge zu hinterfragen. Damit könnten die oben genannten „Kurzschlüsse“ vermieden werden.

Langfristig bedarf es zweifelsohne einer gründlichen Aufarbeitung der ungleichen Verteilung von Covid-19 Infektionen unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Wie bereits die oben genannten Studien und auch die eigene Erfahrung zeigt, spielen vor allem sozioökonomische Faktoren eine große Rolle. Diese strukturell aufzuarbeiten und Lösungsvorschläge zu entwickeln, ist dann eine dringende Aufgabe der Politik.


Footnotes

[1] https://www.bild.de/regional/berlin/berlin-aktuell/feier-mit-folgen-ein-ja-wort-dutzende-infizierte-73262472.bild.html

[2] https://edoc.rki.de/handle/176904/3266, https://www.springermedizin.de/der-geriatrische-patient-in-der-hausarztpraxis/geriatrie-und-gerontologie/vor-dem-tod-sind-alle-ungleich/16548716

[3] https://taz.de/Neue-Coronawelle-in-Deutschland/!5692783/

[4]https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/6965/JoHM_S7_2020_Ungleichheit_COVID_19_Review.pdf?sequence=1&isAllowed=y

[5] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/coronavirus-in-berlin-neukoelln-eine-gewisse-sorglosigkeit-a-032fea0e-8762-4693-83c4-3a2f90dbc33f

[6] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/WorkingPapers/wp21-wohnen-innerstaedtische-segregation.pdf?__blob=publicationFile&v=12

[7] https://imblickpunkt.grimme-institut.de/wp/wp-content/uploads/2014/12/IB-Migranten-und-Medien.pdf

[8] Vgl. https://www.berlin.de/corona/tr/ oder https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/corona-migranten-fremdsprachen-101.html

[9] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/maier-querdenker-ueberpruefung-verfassungsschutz-100.html